Über Kindervatter

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KAWI | Folge 4

Ich betrat mit meiner Tochter die „Sockenzone“ der KAWI-KIDS-Krabbelgruppe durch die Babybarriere, setzte sie auf den Boden und holte mir einen Kaffee. Wie von der Tarantel gestochen robbte sie los, dann um die Ecke, in den anderen Teil der Räumlichkeit, dorthin, wo das Xylophon-ähnliche Musikinstrument steht. Mit und ohne Schlägel trommelte sie auf die Tonhölzer, als spielte sie Rachmaninow in einer apokalyptischen Interpretation. Alle Eltern und Kinder im KAWI starrten sie an, dann mich, der mit ähnlichem Enthusiasmus und hochrotem Kopf den letzten Tropfen Kaffee aus der Pumpkanne pumpte, dann schauten sie wieder zu Selma. Ein Raunen ging durch KAWI.
Kurz vor meinem Studium lebte ich in einer Kleinstadt bei Münster, wo sich ab und zu auf dem McDonalds-Parkplatz ein paar Hoffnungslose trafen, um die vermeintlichen Vorzüge ihrer PKWs zu vergleichen. Mein Auto hatte weder Alufelgen, noch einen CD-Wechsler, keine Sportsitze und auch kein außergewöhnliches Antriebsaggregat. Es war einfach ein Citroen AX in weiß ohne alles und selbst davon fehlten mittlerweile einige Teile. An diese Zeit muss ich immer denken, wenn ich mit meiner Tochter zu KAWI-KIDS gehe. Die Krabbelgruppe ist quasi der McDonalds-Parkplatz in meinem privilegierten Viertel, nur mit Babys statt Autos, denn Autos besitzt man hier bestenfalls in einer carsharing community. „Wie alt?“, fragen die Mütter geschlechtsneutral, weil meine Tochter keine eindeutigen Klamotten trägt und die Frage nach dem Geschlecht zumindest hier in der Südvorstadt als archaisch gilt. „Ich weiß gar nicht genau … zehn Monate … elf?“ „Ach so, na dann ist das ja ok.“, antwortet man mir gestelzt. Andere Kinder in Selmas Alter liefen hier bereits auf zwei Beinen, konnten rutschen, klettern, waren abgestillt und manche sagten ganze Sätze mit bis zu drei Wörtern. Selma kann von all dem nichts, sie robbt und guckt süß, während die einjährige, windelfrei erzogene Lucy ihrer Mutter in Babyzeichensprache erklärte, dass sie mal Groß müsse. So unterschiedlich die Ansprüche der Eltern bei KAWI auch sind, eins haben sie alle gemeinsam: Alle wollen, dass ihr Kind an dem großen hölzernen Xylophon-Ding im Nebenraum spielt. Doch so sehr es sich Kathrin, Tanja und Marco auch wünschen, ihre Janusse, Emmas und Moritzen können sich nur wenige Sekunden für die hölzernen Klangwelten begeistern. Zwei, drei Töne, dann verschwindet der Filzball des Schlegels im Mund des Wunderkindes zur Speichel-Osmose. Selma hingegen brachte Schlegel, Xylophon-Dings und Trommelfelle der bewundernden Schaulustigen bereits seit geschlagenen fünf Minuten an die Materialgrenzen und hörte auch erst auf, als ich ihr heimlich und verdeckt das Apfel-Birne-Zimt-Quetschi gab, das ich vorher mit ihr, den unauffälligen Seiteneingang nutzend, unter dem Xylophon platziert hatte.

KAWI | Folge 42020-05-27T09:55:12+02:00

KAWI | Folge 3

„10,50 € bitte“, sagte der gefühlsechte Typ an der Kasse, als wir ausnahmsweise zu dritt das Krabbelparadies betraten. „Ganz schön teuer“, beschwerte sich Paula, die zum ersten Mal dabei war. Ich schlug ihr vor, das hohe Eintrittsgeld der Ersparnismöglichkeit an der Kaffeekasse des Vertrauens gegenüberzustellen. Zudem gebe es hier Windeln und diversen Baby-Nippes kostenlos, womit auch das Kind angehalten wäre, das Eintrittsgeld vom Soll- in den Haben-Bereich zu fäkalieren. Wir betraten die Schaumstoffmatte und plötzlich wurden wir angestarrt, als wäre dies Bradley Coopers erster öffentlicher Auftritt mit seiner neuen Partnerin (also der Leipziger Bradley Cooper, also Sebastian Krumbiegel). Eltern, die zu zweit zur Krabbelgruppe kommen, zünden sich auch Zigaretten mit Geldscheinen an, denkt man. Ein Elternteil könnte doch jetzt schlafen, aufräumen oder mal aufs Klo zum Instagram-Scrollen. Jamila mit dem kleinen Elmo winkte zu mir rüber. „Kennst du die?“, fragte Paula. Ich erklärte ihr, dass sie jeden Montag hier und dass ihr Kind eines der wenigen übergriffigen sei. Die Mütter gaben sich die Hand. „Gucki mal, Elmo-Mausi, deine kleine Mäusefreundin hat die Mami mitgebracht“, sagte Jamila zu Paula. „Ja, ich wollte mir das auch mal anschauen“, antwortete Paula. Jamila drehte sich fragend in meine Richtung und sagte: “Der Elmo versteht Selmas Mama gar nicht“. Ich flüsterte Paula zu: „Paula, bei KAWI-KIDS reden wir indirekt miteinander. Du musst über Selma zu Jamila sprechen, sonst versteht sie dich nicht“. „Hä?!“, fragte sie entgeistert. „Ja, ist irgendwie schräg, aber wenn du das nicht machst, bist du hier sehr einsam und ich sage dir: Zwei KAWI-Stunden ohne Elterngespräche sind wie fünf Stunden Zahnarztwartezimmer“. Ich übernahm: „Ja, Selmas Mama hat heute Zeit und da hat sich die Selma gewünscht, dass die Mama auch mal mitkommt“. Und dann ging es auch schon in den skurril indirekten Smalltalk über, dass der Elmo sich so dolle freuen würde, wenn Mamis mitkämen und dass Dschennys Mama sich im Bällebad eine Bindehautentzündung geholt hätte. Ich sagte, dass Selma der Mama von Dschenny gute Besserung wünscht und machte ein betroffenes Gesicht in die Gruppe. Aber Paula war schon nicht mehr da. Ich sah nur noch, wie sie durch die Ausgangstür huschte. Whatsapp meldete sich: ‚Da wird Selmas Papa wohl montags wieder alleine zu KAWI gehen müssen. Bis nachher, Paula‘
*Namen der Beteiligten geändert

KAWI | Folge 32020-05-27T09:46:12+02:00

KAWI | Folge 2

Eine größere Gruppe angeblich Zweijähriger sorgte gestern für Unruhe bei KAWI-KIDS. Mit knallroten Gesichtern und popelverschmierten Oberlippen sprangen sie rücksichtslos ins Bällebad, rasten mit Bobbycars durch die Kurven und über die Beine von herumliegenden Einjährigen. Eine Mutter formte mit ihren Händen einen unsichtbaren Helm, den sie ihrem krabbelnden Säugling aufsetzte und mit gespreizten Fingern über seinem Kopf hinter ihm hertippelte. Das dazugehörige Tageselternpaar aus Camp David, fläzte sich auf die Bänke und kauderwelschte mit Lokalkolorid: „Wenn dor Ritschi sisch den Eiorguhchen reinschnabbolieort, gönnt’sch misch beölen“. Ich pumpte mir für einen Cent in die Kasse des Vertrauens einen frisch gebrühten Kaffee in die Tasse, schaute rüber zu meiner Tochter, die lächelnd, wackelig stehend an einem großen Spielzeug fistelte, als plötzlich ein Junge aus der Gruppe zu ihr rannte und sie vom Spielzeug wegdrängte. Gutmütig lächelte sie ihn an und begann seinen Arm zu streicheln, bis er sie mit beiden Händen zu Boden stieß. Bis zu diesem Moment hatte meine Tochter noch nie Ablehnung erfahren und begann zu weinen. Ich ging rüber, hob sie auf, wischte ihr die Tränen ab und wandte mich an die stinkende Ratte. „So, jetzt ist eine Entschuldigung fällig, Kollege“, doch Kollege schwieg. „Hast du mich nicht gehört?“ Ignorant begann er an dem Spielzeug zu spielen. „Gibbs ä Brobläm?“, sprach Camp David mich von der Seite an. „Ja, Ihr halbstarkes Mündel hat meine zehn Monate alte Tochter grundlos zu Boden gestoßen“ „Mei was? Ritschi, hassde geschubbst?“ Die Ratte schüttelte den Kopf. „Brobläm geklärt“, teilte mir Camp David mit. „Wenn der Junge keine Verantwortung für sein Verhalten übernehmen möchte, dann werden Sie das eben tun.“ Ich packte ihn am Yakuza-Shirt, wirbelte ihn zwei-, dreimal über meinem Kopf durch die Luft und warf ihn durch die Schaufensterscheibe. Alle Mütter, der knochige Papa im Bällebad und die Kinder jubelten und klatschten, Helm-Mama brachte mir meine dampfende Kaffeetasse rüber und Ritschi entschuldigte sich bei meiner Tochter. Sie lächelte.

(Teilweise fiktiv.)

 

KAWI | Folge 22019-01-23T12:23:20+02:00

KAWI | Folge 1

Gestern habe ich mit meiner Tochter erstmals die offene Krabbelgruppe im Indoor-Spielplatz besucht. „Schaut mal Kinder, noch ein Papa!“, riefen 15 krabbelnde Mütter. Einige rückten sich die zerzausten Haare zurecht. Im Gesicht des einzigen Mannes vor Ort wurden die Augen groß und er formte Mimiken der Erleichterung. Er war komplett ausgemergelt, knöchrig und blass und auf seinen Knien, Ellenbogen und Wangenknochen klebten Schaumstoffstücke, damit er im Bällebad niemanden verletzte. „Gibts hier irgendwo Kaffee? Und wo kann ich meinen Laptop laden?“, fragte ich in die Runde. Laptops sehe man hier nicht so gerne und Kaffee gebe es in der Pumpkanne, daneben stünde die Kasse des Vertrauens. Ich hatte ein Centstück sowie einen Fünf-Euro-Schein dabei und entschied mich für das Centstück, da man dies besser hörte und ich wohl kaum mehr als einen halben Kaffee von der Brühe zu mir nehmen würde. Nachdem ich die Pumpkanne komplett leer getrunken hatte, war es mir dann irgendwie zu doof den Schein noch einzuwerfen. Nächstes Mal werde ich mehr Centstücke mitnehmen.

 

KAWI | Folge 12020-05-27T09:46:48+02:00

Das Spermiogramm

Kaum hatte ich mich beschwert, dass das Mummy Mag eigentlich ein Daddy-Pendant bräuchte, musste ich auch schon einen Text hinschicken. Wie gut, dass ich ein Erlebnis auf der Pfanne hatte, über das sich zu schreiben lohnte: die Durchführung eines Spermiogramms. Masturbation aus medizinischen Gründen, quasi für einen guten Zweck, sowas ist mir bisher nicht untergekommen. Da wurde das kindische Ich in mir geweckt, das kichert, wenn jemand „Sperma“ oder „Glied“ sagt. Den Artikel gibt es hier. Viel Spaß beim Lesen!

 

Das Spermiogramm2019-01-23T12:06:24+02:00

Kindervatter jetzt mit einem „t“

Heute bekam ich einem Mail von einer Leserin, die nach einem zweiten Buch fragte. Gute Frage. Selbstverständlich schreibe ich immer wieder Texte für die Bühne und ich arbeite auch an einem neuen Roman, allerdings hat es dieser nicht besonders eilig und braucht auch noch ein paar Jahre. Zudem gab und gibt es einige neue Projekte, die nichts mit Literatur zu tun haben. Fotografie und Malerei haben auch eine gewisse Anziehungskraft auf mich und fordern Zeit. Anfang des Jahres mündete dies in einer Installation, die im Museum der bildenden Künste ausgestellt wurde (Artikel in der LVZ). Und dann ist noch etwas ganz anderes und höchst Famoses passiert: Ich bin Vater geworden. Im Ernst. Ganz wirklich. Jetzt muss alles erst mal neu sortiert werden. Eine Angst kann ich Euch allerdings schon mal nehmen: Es gibt nicht noch ein Buch über einen zynischen Vater in der Stadt und ich schreibe auch keine Kinderbücher – versprochen.

Kindervatter jetzt mit einem „t“2018-11-05T21:45:19+02:00

Leseduell in Dortmund

Vor vielen Jahren, als Handys noch in Hosentaschen passten, habe ich mal im Ruhrgebiet gelebt. Einerseits wegen des Studiums, andererseits, weil ich mich dort sehr wohl gefühlt habe (siehe Abbildung. „Kindervatter und der Tequila“, Dortmund, 2001) Dortmund ist rauh und direkt, so wie ich mich selbst sehe, wenn ich vor dem Spiegel posiere, alleine, vor dem Rasieren. Und hätte der Verkehr auf der A40 mich nicht in den Wahnsinn getrieben und hätte Berlin nicht meinen Namen gerufen – ich wäre wohl immer noch in der Saarlandstraße 49 zu Hause. Daher freue ich mich sehr, dass LUUPS uns gefragt hat, ob wir nicht mit „Kindervatter vs Krätschell – Ein Leseduell“ am 11.06.2017 nach Dortmund kommen wollen. Da haben wir gesagt: „Ja“ und „Geilo!“ haben wir auch noch gesagt. Kommt vorbei, ladet Euch ein, trinkt ein Bier mit uns! Wir lesen um die Wette und am Ende wird abgestimmt, wer der lustigere war. Infos zur Veranstaltung findet Ihr hier: Leseduell Dortmund

Leseduell in Dortmund2018-11-04T00:31:04+02:00

Da war ich noch nie!

In Plankstadt bei Heidelberg, so sagt man, sei ich ein Renner in der Bibliothek. Aus diesem Grund hat man mich zum 25. Jahrestag der Bücherei Plankstadt eingeladen und darüber freue ich mich ganz besonders. Ich war nämlich noch nie in meinem Leben in Baden-Württemberg. In meiner Kindheit lag es wohl an der eingeschränkten Reisefreiheit des Unrechtssystems, in das meine Eltern mich verantwortungsloser Weise hineingeboren hatten und danach ist es irgendwie nicht dazu gekommen. Ich durfte bisher keinen Porsche vom Werk abholen, wurde leider nie von Harald Schmidt zum Essen eingeladen oder von Xavier Naidoo zur Überarbeitung seiner Texte. Baden-Württemberg ist ein weißer Fleck auf meiner persönlichen Landkarte. Gott sei Dank, grenzt die Hauptstadt Baden-Württembergs (Berlin-Prenzlauer Berg) direkt an meinen alten Kiez in Berlin-Friedrichhain, sodass ich mir die Einwohner schon mal grob ansehen konnte. Zwei davon zählen zu den besten Menschen, die ich bisher kennenlernen durfte. Es muss sich also um einen hervorragenden Landstrich handeln.

Da war ich noch nie!2018-11-05T21:46:36+02:00

BOOK BROTHERS

Nachdem ich ja nun schon oft bei anderen Lesebühnen zu Gast war, bin ich jetzt selbst Teil einer solchen. Roman Israel, Uwe Schimunek und ich sitzen ab sofort jeden ersten Dienstag im Monat im Cafè Robotnik im Leipziger Südsüden und gentrifizieren was das Zeug hält. Drama, Krimi und meine „platten Anekdoten“ (Zitat meines Erzfeindes Hannes Krätschell) stehen von nun an auf der teil-veganen Karte des sympathischen Gastro-Juwels. Da ist für jeden Linksautonomen und Punker der Connewitzer Szene, aber auch für Euch etwas dabei. Schaut doch mal vorbei. Eine Website haben wir auch schon: www.book-brothers.de

BOOK BROTHERS2018-11-05T21:50:18+02:00

Tourbericht

In der letzten Woche hatte ich die Ehre bei den berühmten Berliner Lesebühnen LSD, Surfpoeten, Brauseboys und der Reformbühne als Gastleser auftreten zu dürfen. Und man muss abschließend sagen: Ich konnte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich benutze seit langem die Wetter-App von Yahoo, weil sie im Gegensatz zu einigen anderen Apps, ein für meine Sakkoträger-Bedürfnisse optimales Wetter anzeigt – milde Winter und kühle Sommer. Bereits beim ersten Lesetermin im Schokoladen musste ich feststellen, dass die schwarze Montur mit dem Samt-Sakko bei vierzig Grad völlig falsch gewählt war. Passenderweise las ich von Sommererinnerungen in der DDR und dem ostdeutschen Meer und konnte dadurch den afrikanischen Kontinent aus Schweiß auf meinem T-Shirt und die Tropfen in meinen Haaren als illustrierende Interaktion verkaufen. Auch der mitgeführte Deo-Roller konnte der Transpiration keinen Einhalt gebieten, da meine Freundin mir in ihrer ökologisch-gesundheitlichen Absicht eine Ausführung ohne Alkohol und Aluminium einpackte – wegen Alzheimer, Tierversuchen und Krebs und so. Dieser hat weniger die Funktion die Schweißdrüsen zu stopfen als vielmehr die, den körpereigenen Geruch mit einer Art Blütengeruch zu mischen. Und während die anderen Leser in der Runde wohlduftend den Hopfen ihres Pausenbiers verdunsten durften, roch ich nach mehrfachem Trocknen und erneutem Vollschwitzen, wie ein Iron-Man Athlet im Lavendelfeld, wie ein Tiger bei Douglas, wie uralte Trainingsschuhe mit nagelneuer Dufteinlage, wie… Stinkevatter. Danke an die Lesebühnen, dass ich über die Pause hinweg sitzenbleiben durfte und an alle, die im Publikum saßen. Wir riechen, sehen und hören uns wieder.

(An den Unmensch, der im Mauersegler aus meiner Buch-Kasse die 80 Euro entwendet hat: Ich habe dich bei einer Voodoo-Priesterin im Wedding mit einem Fluch belegen lassen und werde ab nächster Woche mehrfach am Tag die mitgebrachte Voodoo-Puppe malträtieren. Bis dahin gebe ich dir die Möglichkeit, die hart ersparten Kleinkunst-Euros anonym per Post, Paypal, Bitcoin oder Biomare-Gutschein zurückzugeben – selbstverständlich mit Zinsen.)

Tourbericht2018-11-05T21:48:01+02:00
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